Was ist Schamanismus

Da es nicht „den“ Schamanismus gibt, möchte ich Ihnen hier ein paar Antworten geben, was es mit dem Schamanismus aus meiner Sicht in meiner persönlichen Arbeitsweise auf sich hat.

Was ist Schamanismus?

Schamanismus als Lehre

Wenn ich eine Begriffsdefinition geben sollte, würde ich sagen: Schamanismus ist die Lehre vom Zusammenleben der Menschen mit den geistigen Wesen der Schöpfung.

Genau so, wie sich ein Arzt mit dem Körper eines Menschen beschäftigt, ein Zoologe mit Tieren oder ein Botaniker mit Pflanzen und deren Lebensraum beschäftigt, sind für einen Schamanen die geistigen Wesen der realen und geistigen Welt im Zentrum seines Interesses.

Unter geistigen Wesen versteht man eine Vielzahl an Wesen, die durchaus auch materiell existieren können. Der Mensch ist so ein Wesen, das sowohl einen Körper als auch eine Seele hat aus Sicht des Schamanismus.

Untersucht man die Schöpfung, also die Welt und alles, was dazu gehört, Himmel, Universum, aber auch Bäume, Tiere oder Flüsse etc., mit den Mitteln des Schamanismus, kann man die Erfahrung machen, dass die gesamte sichtbare und unsichtbare Schöpfung von geistigen Wesen belebt ist, denen man mit schamanischen Mitteln begegnen und in Kontakt treten kann.

Man kann die Wesen der geistigen Welt also durchaus praktisch erfahren.

Schamanismus als Medizin

Ethnologen sehen im Schamanismus das älteste Medizinsystem der Menschheit. Aus der Sicht der Schamanen verschiedener indigener Kulturen ist eine verletzte, in ihrer Integrität geschädigte Seele der Auslöser vielfältiger Erkrankungen, die sowohl psychische als auch körperliche Symptome nach sich ziehen kann: Ohne seelische Heilung keine Genesung.

Tatsächlich haben wir in unserem Kulturkreis keine Fachleute mehr für das Seelenheil und dessen Bedeutung für die Gesundung von Menschen. Unter dem Monopol der wissenschaftlichen Weltdeutung haben wir auch keinen besonderen Zugang mehr zur eigenen Seele. Was Wellnessindustrie oder manche Psychologen mit Seele meinen, hat mit dem ausdifferenzierten Seelenbegriff des Schamanentums, so wie ich es erlebe, nichts zu tun.

Im Schamanismus aber nun das Allheilmittel, den Jungbrunnen oder gar Wunderheilung zu suchen, wird dem auch nicht gerecht. Alles hat seinen Platz und seine Berechtigung. Es ist schon ganz gut, moderne Apparatemedizin und Psychotherapien zu haben. Ich strebe in meiner Arbeit hier eine Zusammenarbeit mit anderen Behandlern an.

Menschenbild im Schamanismus

Der Mensch ist Teil der Schöpfung und Teil seiner selbst ist ein Körper, ein Geist (im Sinne einer Psyche) und einer Seele. Diese Teile wechselwirken miteinander und bedingen sich, und treten auch in Wechselwirkung mit der Aussenwelt, die ihrerseits als Einheit von körperlichen und seelischen, bisweilen auch psychischen Teilen verstanden werden kann. Der Mensch als Teil der Schöpfung ist ein Teil des gesamten Gefüges und hat darin sein Aufgaben und Verantwortungen, auch auf geistiger und seelischer Ebene.

Gottesbild im Schamanismus

Ich würde unterscheiden zwischen Geistwesen (Spirits) oder Gott und göttlichen Prinzipien. Geistwesen, wie etwa die Seele eines Menschen, eines Baumes oder einer Krankheit, stellen keine Gottheiten dar, und werden auch nicht als solche verehrt. Wohl aber sind sie Teil der Schöpfung und es gebietet sich, ihnen mit dem notwendigen Respekt zu begegnen, so, wie man auch anderen Menschen mit Respekt begegnen sollte. Die Pflege einer guten Beziehung zu den Wesen der „anderen Welt“ ist von entscheidender Bedeutung. Und es ist immens wichtig, die guten und schlechten Geistwesen unterscheiden zu können.

Masken von Dämonen im Maskenmuseum in Ambalangoda, Sri Lanka. Die Masken zeigen, wie der Yakkadura (d.h. Dämonenpriester, also der Schamane) die krankheitbringenden Geistwesen in seiner schamanischen Trance wahr nimmt.

Bis hier hin ist Schamanismus also keine Religion. Schamanismus ist zunächst rein auf das Begegnen mit Geistwesen konzentriert, die als Teil der Schöpfung eben auch Geschöpfe, und keine Gottheiten, sind. Sie wurden „gemacht“ vom Schöpfer.

Das schließt die Existenz eines Gottes oder von Göttern nicht aus. So gibt es z.B. in der Bön-Religion Nepals eine Überdeckung von Schamanismus und Religion. Die Bön-Prister benutzen schmamanische Techniken und sind gleichzeitig Repräsentanten der religiösen Gottheiten. Etwas ähnliches findet sich auch in Nordamerika, wo der „Medizinmann“ auch für die Kommunikation mit dem großen Geist zuständig ist. Auch die kath. Kirche oder der Buddhismus haben schamansiche Praktiken assimiliert und Vorstellungen von Geistwesen, die neben Gott existieren.

Schamanismus als Kraftquelle

Ich unterscheide verschiedene Kraftquellen. Zunächst ist der Mensch selber eine Kraftquelle, auf physischer, psychischer und seelischer Ebene. Alle diese Aspekte sind von Bedeutung für die Arbeit. In der schamanischen Praxis geht es darüber hinaus darum, in geeigneter Weise die Wesen der geistigen Welt zu bitten, mit ihrer jeweiligen spezifischen Kraft dem Gelingen der Vorhaben der Menschen bei zu stehen. So werden bestimmte Geistwesen mit ihrer Kraft herbei gerufen, wenn es um Heilarbeit bei einer Erkrankung eines Menschen oder Familie geht.

Ein Schamane sollte also über „gute Beziehungen“ zu einer Vielzahl an Wesen der geistigen Welt haben. Das lässt sich nicht kaufen oder durch noch so viele Seminare herbei bringen, sondern nur über die Jahre erarbeiten.

Schamanismus als Quelle von Gemeinschaft

In den traditionellen Gesellschaften zeigen sich verschiedene Gemeinschaften, für deren Pflege der Schamane mit zuständig sein kann, z.B.:

  • die Gemeinschaft des Clans, mit den Menschen der unmittelbaren Umgebung, um Frieden und Wohlergehen zu fördern (heute vielleicht die Familie, die Schulklasse, die Nachbarschaft, der Sportverein, überall dort, wo ein „guter Geist der Gemeinschaft“ gefragt ist),
  • die Gemeinschaft mit den Seelen der Verstorbenen, damit sie und die Lebenden ihren Frieden finden und sich gegenseitig (!) unterstützen,
  • die Gemeinschaft mit der sie umgebenden Natur und der Schöpfung, aus der sich die Menschen bedienen, um zu leben, etwa durch Dankesrituale nach erfolgreicher Jagd,
  • die Gemeinschaft mit den Wesen der geistigen Welt, die auch in der physischen Welt ihren Platz brauchen, um in Frieden und wohlwollend mit den Menschen zusammen zu leben.

Lime cutting ceremony bei einem Schamanen auf Sri Lanka. Nicht im Bild sind die anderen Familienmitglieder, Nachbarn und Passanten, die der arbeit beiwohnen. Schamanische Arbeit ist hier etwas, das ganz natürlich öffentlich ist.

Diese Liste lässt auch erkennen, worin heute die wesentlichen Herausforderungen für schamanisches Wirken besteht: Unsere Gemeinschaften sind zerfallen, der Einzelne aus den Gemeinschaften heraus gefallen. Dies zieht eine ganze Reihe erheblicher Probleme für die ganze Schöpfung nach sich, angefangen bei der Zunahme verschiedener Erkrankungen (Burnout, Onlinesucht) bis zur Zerstörung des Planeten.

Ist Schamanismus heilkräftig? Wie werden diese Kräfte ausgeübt?

In meiner schamanischen Praxis kommen verschiedene Elemente zum Einsatz, die aktuell Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind und deren Heilwirkung belegt oder gerade tiefer erforscht wird. Das sind zum Beispiel die Musik- oder Kunsttherapie, Gesprächstherapie, Körper- und Bewegungstherapie, systemische Familientherapie, aber auch Pflanzenheilkunde (Phytotherapie), Waldbaden oder Atemübungen. Auch die Wirkung von Ritualen wird mit wissenschaftlichen Methoden beforscht.

Aus diesen und weiteren Elementen wird aber erst dann schamanisches Handeln, wenn man „die richtigen und guten Geister“ mit ihrem Wohlwollen dazu ruft. Ob es nun Spirits, Wesen in der geistigen Welt, gibt und wie sie wirken, ist meinem Wissen nach bisher nicht wissenschaftlich erforscht.

Nachdem ich über Jahre hinweg ihre Wirkung praktisch erfahren habe, wurde diese Frage obsolet und ich „lebe einfach mit ihnen“. Schließlich sind sie nichts, was ich in einem Buch gelesen oder mir ausgedacht habe, sondern eine Erfahrungsrealität, die ich mit anderen Praktizierenden teile.

Sicher bedarf es hier einer gewaltigen, sich immer wieder erneuernden Reifung, um eigene Projektionen, Wunschvorstellungen oder auch eine „spirituelle Realtitätsflucht“ zu überwinden und sich so immer mehr der Realität geistiger Erfahrungen angemessen zu stellen. Die gesunde, heilbringende Begegnung etwa mit den Spirits ernsthafter Erkrankungen bedarf eines ausgeprägten Realitätssinnes.

Welche Rituale gibt es im Schamanismus?

So vielfältig wie die Erscheinungsformen des Schamanismus rund um die Welt sind, so vielfältig sind die Rituale. Denn Rituale entspringen der Notwendigkeit, das Leben an Ort und Stelle zu gestalten. Rituale sind also etwas anderes als Zeremonien oder als symbolische Handlungen. Rituale, wie etwa der Sundance der Cherokee oder das Ahajuasca-Ritual sind Interventionen, sind Eingriffe in das, was ist. Das wird oft übersehen und von unbedarften Menschen zum spirituellen Erlebnis degradiert (und bleibt daher auf lange Sicht auch so oft wirkungslos). In meiner eigenen schamanischen Praxis finden sich z.B. Intitiationsrituale wie etwa der Feuerlauf, Rituale für die Bewältigung von Verlust und Trauer, Rituale der Neugeburt oder zur Herstellung und Pflege von Gemeinschaft.

Wie praktiziert man Schamanismus?

Ohne eine geklärte, gewachsene und stabile Beziehung zu sich selbst geht im Schamanismus nicht viel. Schaue ich aus meiner eigenen schamanischen Perspektive auf die Menschen unserer Gesellschaft, würde ich einem Interessierten zunächst empfehlen, etwas mehr auf sich, den eigenen Körper und sein seelisches Wohlergehen zu achten. Dafür braucht man kein Seminar, sondern nur etwas Aufrichtigkeit: Ist das, was ich gerade tue, gut für mich? Oder ist es doch eher Ablenkung, Kompensation oder Verdrängung? Habe ich mein Zentrum bei mir, oder habe ich es abgegeben? Wenn man nur etwas zur Ruhe kommt, hat man schnell die Antwort, auch darauf, was sinnvoller und besser wäre zu tun. Zwei bis drei Stunden alleine im Wald, ohne Hund, ohne Handy, ohne Schlüsselbund, und man beginnt wieder, über sich selber zu verfügen. Geht man den Weg weiter, befreit man sich nach und nach von allerlei künstlichen Ideen und mentalen Konstruktionen. Es ist zwar gut, eine Weile den Ideen anderer zu folgen, aber ab einem gewissen Punkt muss man auch im Schamanentum sein eigenes Ding gefunden haben. Sonst läuft man immer nur Vorgedachtem und Vorgelebtem nach und verpasst die eigene authentische Erfahrung. Es ist nichts falsch daran, sich für die eigenen Vorfahren zu interessieren. Jeder wird einen eigenen Weg finden, sie im eigenen Leben sichtbarer zu machen, etwa durch Fotos oder sogar einen kleinen Hausaltar.

Wes Geistes Kind bin ich gerade? Wenn wir die guten Geister rufen, kommen sie. Ob zu Hause oder in der Natur, man kann einen eigenen, einfachen Weg finden, sich „begeistern“ zu lassen. Man braucht nur dem Gedanken eine Chance geben, dass sie da sind. Vielleicht findet man jemanden, der einem dabei hilft, z.B. Kontakt zu den eigenen Krafttieren zu bekommen. Um als Schamane zu praktizieren, braucht es darüber hinaus natürlich viel Ausbildung, idealer Weise bei authentischen und kompetenten Schamanen. Übung und Praxis in den verschiedenen Techniken des Handwerks sind unerlässlich, um verantwortungsvoll und wirksam arbeiten zu können.